Die Argumente in Kurzform
Eine etwaige Senkung der Umsatzsteuer für Gemüse, Leguminosen und Obst ist das falsche Instrument für das berechtigte Ziel der Förderung einer stärker pflanzenbasierten Ernährung. Eine Senkung der Umsatzsteuer
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erhöht allerhöchstens geringfügig die Nachfrage nach Obst, Gemüse und Hülsenfrüchten,
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schadet kleinen Direktvermarktern,
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fördert auch intensiv produziertes Import-Gemüse und -Obst,
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erzeugt unverhältnismäßig hohe Kosten (2 Mrd. EUR jährlich weniger für den Bundeshaushalt),
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verkompliziert das Umsatzsteuerrecht,
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steht daher auch unseren agrar- und steuerpolitischen Reformprojekten im Weg und
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verhindert eine notwendige Vereinfachung des Umsatzsteuerrechtes
Wir brauchen stattdessen eine umfassende Reform des Umsatzsteuerrechtes auf Bundesebene sowie eine soziale Abfederung der gestiegenen Lebenshaltungskosten über ein erhöhtes Bürgergeld und eine Erhöhung des Mindestlohns. Die Senkung der Umsatzsteuer ist eine pauschale Maßnahme mit der Gießkanne, durch die auch Spitzenverdiener profitieren könnten. Wir sollten uns auf zielgerichtete Maßnahmen der Ernährungswende konzentrieren.
Die Argument im Detail
1. Warum reagieren Verbraucher nur geringfügig auf eine minimale Preisänderung?
Die Senkung der Umsatzsteuer bedeutet bezogen auf das einzelne Produkt oft nur wenige Cents und wird daher von Verbraucher:innen kaum wahrgenommen. Die Forschung zeigt auch, dass Verbraucher:innen nicht so stark (unelastisch) auf Preisänderungen im Lebensmittelbereich reagieren (2), weil Obst und Gemüse (im Gegensatz zu anderen Konsumgütern) weitgehend Güter des Grundbedarfs sind. Die Ernährungsgewohnheiten von Menschen ändern sich nur sehr langfristig und aufgrund von veränderten Lebensumständen und nicht durch eine einmalige, kaum merkbare Preissenkung zum Jahresanfang. Es ist weiterhin nicht klar, ob der Lebensmitteleinzelhandel die Steuersenkung langfristig in vollem Umfang an Verbraucher:innen weitergibt, hierzu gibt es gemischte Erkenntnisse. Es ist keine mengenmäßige Änderung des Obst- und Gemüsekonsums zu erwarten, da die vergleichsweise geringe Preisänderung kaum wahrgenommen wird.
2. Warum nutzt die Absenkung der Umsatzsteuer vor allem Importeuren?
Geht man trotzdem von einer geringfügigen Wirkung auf die Nachfrage aus, bezieht sich diese vor allem im Winterhalbjahr zu einem großen Teil auf Importprodukte. Der Selbstversorgungsgrad bei Obst liegt 2022 bei 23% und bei Gemüse bei 36% (3). Die restliche Ware wird importiert, d.h. es profitieren hauptsächlich Importeure von einer höheren Nachfrage. Zum Ziel einer stärker regionalen und saisonalen Ernährung würde die Senkung der Umsatzsteuer nichts beitragen. Insofern erzielt die Maßnahme auch keine ökologische Lenkungswirkung.
3. Aus welchen Gründen entscheiden sich Menschen für eine andere Ernährung?
Es gibt sehr unterschiedliche Motivationen für die Art der Ernährung. Laut Wissenschaftlichem Beirat für Agrar- und Ernährungspolitik (WBAE) ernähren sich aktuell 4,3% der deutschen Bevölkerung vegan. Etwa 20% der Bevölkerung sieht die Fleischproduktion kritisch (4). Die Motivation zur Änderung des eigenen Ernährungsstils ist sehr unterschiedlich, hier spielen die Ziele Gesundheit, Tierwohl, Umwelt, Klima und Soziales eine Rolle, was jedoch nicht immer automatisch zu einer pflanzenbasierten Ernährung führt. Grundsätzliche Änderungen im Ernährungsverhalten erfolgen bei vielen Menschen vor allem langfristig und nicht aufgrund minimaler Preisänderungen. Daher sollte eine Ernährungspolitik viele verschiedene Faktoren berücksichtigen.
4. Warum ist die behauptete Gesundheits- und Klimawirkung einer Umsatzsteuersenkung spekulativ?
Es ist unbestritten, dass von einer stärker pflanzenbasierten Ernährungsweise positive Klima- und Gesundheitseffekte ausgehen. Wenn es jedoch keinen Mengeneffekt gibt, sind allenfalls geringfügige Klima- und Gesundheitseffekte zu erwarten. Um diese Ziele zu erreichen, sind andere ernährungspolitische Instrumente notwendig.
5. Warum werden kleine Direktvermarkter (= größtenteils Ökobetriebe) benachteiligt?
Eine Umsatzsteuersenkung bedeutet für kleine Direktvermarkter eine wirtschaftliche Härte. Pauschalierende Betriebe mit Direktvermarktung können sich die Mindereinnahmen einer abgesenkten Umsatzsteuer nicht vom Staat zurückholen. Viele der kleinen Direktvermarkter sind Öko-Betriebe, d.h. Betriebe, die wir Grüne nicht benachteiligen wollen. Auf einer Expertenanhörung der LAG Landwirtschaft im Juli 2023 wurde herausgearbeitet, dass es unmöglich ist, für solche Betriebe eine Erstattung der Mindereinnahmen zu organisieren. Es wurden verschiedene Optionen diskutiert, die aber alle aus unterschiedlichen Gründen nicht durchführbar sind.
Eine Kompensation von kleinen Direktvermarktern ist bei einer Senkung der Umsatzsteuer nicht möglich – anders, als dies von Vertretern einer Senkung der Umsatzsteuer oft behauptet wird. Es wird in der Debatte vage von einer Kompensation „potenzieller Verluste“ gesprochen, ohne das klar wird, wie eine solche Entschädigung technisch gestaltet werden soll. Die bisher in LAG-Sitzungen diskutierten Lösungen z.B. in Form einer Prämie sind alle ein bürokratischer Albtraum. Man bestraft die besonders kleinen Betriebe mit Direktvermarktung durch zusätzliche Bürokratie.
Der Wissenschaftliche Beirat hat seit 2010 in verschiedenen Gutachten empfohlen (5,6), aus gekoppelten Prämien und Direktzahlungen auszusteigen, auch andere Wissenschaftler:innen empfehlen einen Ausstieg aus pauschalen Prämienzahlungen. Der Vorschlag einer Prämie für kleine Direktvermarkter ist also das exakte Gegenteil, was die Wissenschaft empfiehlt. Der Antrag schlägt eine Maßnahme vor, ohne diese auch nur ansatzweise durchdacht zu haben.
6. Warum steht dieser Eingriff in die Steuerpolitik dem Ziel einer umfassenden Umsatzsteuerreform im Weg?
Der Vorschlag einer Umsatzsteuersenkung steht im Widerspruch zu einer großen Reform der Umsatzsteuer, wie er seit vielen Jahren gefordert wird. Es gibt zahlreiche inkonsistente Besteuerungen bei der Umsatzsteuer, die abgeschafft gehören, wie z.B. die Besteuerung von Pflanzenmilch als Getränk mit 19%. Wir Grüne stehen für eine ökologische Steuerreform, die eine konsequente Besteuerung fossiler Inputs beinhaltet. Das Ziel der Verteuerung von fossilen Inputs ist im Sinne der allgemeinen Umwelt- und Klimapolitik zentral und erfordert ökonomisch ausgleichende Maßnahmen. Für eine solche ökologische Steuerreform fehlen uns die 2 Mrd. EUR pro Jahr, die die Senkung der Umsatzsteuer für Gemüse, Leguminosen und Obst kosten würde.
7. Für welche grünen Projekte aus dem Bereich Agrar- und Umweltpolitik fehlen uns im Bund aktuell die finanziellen Mittel?
Eine ambitionierte grüne Agrarpolitik erfordert jährlich mehrere Milliarden:
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Für den Umbau der Tierhaltung in Richtung Tierwohl und die Reduktion der Nutztierzahl in Deutschland insgesamt könnten 4-5 Mrd. EUR/Jahr ausgegeben werden für Investitionen für den Stallumbau (10). Die Borchert-Kommission hat vorgeschlagen, 1,3 Mrd. EUR/Jahr für einen ersten Schritt zu investieren. Dieser Betrag war zu Beginn der Ampel umstritten. Inzwischen zeichnet sich eine Lösung in Form des Tierwohl-Cents von Cem Özdemirs ab. Es ist schon jetzt absehbar, dass die veranschlagten Mittel von 1 Mrd. EUR/Jahr dafür nicht ausreichen werden.
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Biologischer Klimaschutz und Wiedervernässung von Mooren: 1-2 Mrd. EUR/Jahr (7). Bisher kommen wir bei der Moorvernässung nicht mal auf 200 Mio. EUR jährlich.
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Die Umsetzung der Fauna Flora Habitat-Richtlinie (FFH) erfordert mindestens 1,4 Mrd. EUR/Jahr (8).
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Förderung der Agrar-Biodiversität über die Agrarumwelt- und Klimamaßnahmen und Öko-Regelungen der GAP betragen aktuell 1,8 Mrd. EUR/Jahr, auch hierfür fehlen teilweise die Mittel für die Kofinanzierung. Die Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küstenschutz (GAK) wurde dieses Jahr um 66 Mio. EUR/Jahr gekürzt, obwohl hier wichtige Programme finanziert werden (9).
Nicht für alle genannten Ziele könnten GAP(EU)-Mittel verwendet werden, daher ergibt sich aus dieser Aufzählung ein weiterer Finanzierungsbedarf aus Bundes- und Landeshaushalten.
Quellen
(1) Der Deutsche Bundestag (2022): Neue Handlungsspielräume bei Umsatzsteuersätzen, Bundestagsdrucksache 20/2046 vom 31.05.2022, url: https://tinyurl.com/3m6hn7wv
(2) Femenia, F. (2019): A Meta-Analysis of the Price and Income Elasticities of Food Demand, German Journal for Agricultural Economics 68 (2): 77-98
(3) BLE (2024): Der Selbstversorgungsgrad in Deutschland (Pressemitteilung vom 24.02.2024), Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE), Bonn, https://bit.ly/3xu5Y5w
(4) WBAE (2020): Politik für eine nachhaltigere Ernährung: Eine integrierte Ernährungspolitik entwickeln und faire Ernährungsumgebungen gestalten, Gutachten des Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (WBAE), Berlin, url: https://bit.ly/3uA4ndz
(5) WBA (2010): EU-Agrarpolitik nach 2013 - Plädoyer für eine neue Politik für Ernährung, Landwirtschaft und ländliche Räume, Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (WBA), Berlin.
(6) WBAE (2018): Für eine gemeinwohlorientierte Gemeinsame Agrarpolitik der EU nach 2020: Grundsatzfragen und Empfehlungen, Gutachten des Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (WBAE), Berlin. https://bit.ly/4bKtLOk
(7) WBAE (2016): Klimaschutz in der Landwirtschaft- und Forstwirtschaft sowie den nachgelagerten Bereichen Ernährung und Holzverwertung: Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Agrar- und Ernährungspolitik beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (WBAE), Berlin. url: https://bit.ly/35UWFxU
(8) Pabst H., Achtermann, B., Langendorf, U., Horlitz, T., Schramek, J. (2018): Biodiversitätsförderung im ELER (ELERBiodiv). Endbericht des gleichnamigen Forschungs- und Entwicklungsvorhabens (FKZ 3515 880 300), IFLS Frankfurt. url: http://tinyurl.com/nn4845dj
(9) NABU (2024): Haushalt 2024 – Harte Einschnitte für den Naturschutz, Blogbeitrag von Stephan Piskol (NABU), Berlin. Url: https://blogs.nabu.de/naturschaetze-retten/hh24/
(10) WBAE (2015): Wege zu einer gesellschaftlich akzeptierten Nutztierhaltung – Gutachten des Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (WBAE), Berlin, url: http://tinyurl.com/mvv4x9tz